Die Aufrufe nach – möglichst bundesweiter – Lagenklassifizierung nehmen zu als Folge einer international verbreiteten Fixierung auf Klassifikation als Vermarktungswerkzeug. Das ist nicht ganz unproblematisch. 

David Schildknecht © Vinaria

In einer früheren Kolumne von mir aus dem Jahr 2013 (Vinaria 07 2013 100-101), die das Drängen hin zu einer Lagenklassifizierung thematisierte, hatte ich die entsprechenden Bemühungen der ÖWM für eine „klasse Fixiertheit“ erklärt.

Die damals als vorteilhaft geschilderten Aspekte der ÖTW-Klassifikation (Österreichische Traditionsweingüter) gelten nach wie vor: eine klare, flächendeckende Lagen-Abgrenzung, eine überzeugende Erklärung des Begriffs Lagenpotenzial oder wie Lagenpotenzial gemessen werden soll, ein Bewertungsverfahren, das nachvollziehbar und Nicht-Mitgliedern zugänglich ist, Mechanismen der ständigen Überprüfung und Erneuerung von außen wie innen. Das sind alle verhältnismäßigen Vorteile.

Hier möchte ich jedoch die weitverbreitete Klassifixierung von heute als solche einer umfassenden Kritik unterworfen werden.

Eine neuere Serie von Vinaria Interviews zum Thema zeigte, dass fast alle interviewten Winzer und Weingutsexperten voll und ganz für eine Lagenklassifizierung sind. Manche, wie ÖTW-Obmann Michael Moosbrugger, sind gar der Meinung, eine solche sei „absolut notwendig“.

Es ist völlig verständlich, dass Winzer stolz auf ihre Weinberge sind, und auch der Wunsch, deren Leistungsvermögen zu bewerben, ist nachvollziehbar. Dennoch sollte die offenbar allgemein angenommene Werbekraft einer Klassifizierung unter die Lupe genommen werden. Denn Nachweise, deren Nutzen und Wirksamkeit sind spärlich.

Burgund – ja, selbstverständlich! Aber der große Ruf Burgunds geht der Klassifizierung seiner Lagen weit voraus, und jene geht selbst so weit zurück, dass ihre Vermarktungsrolle schwer nachweisbar ist. Die heutige Klassifikation, wie die der Appellation Contrôlée schlechthin, entstand „aus Not“ in den 1930er-Jahren. Das beweist aber keineswegs, dass sie eine essenzielle Rolle beim schlussendlichen Aufschwung, der erst weit nach dem Zweiten Weltkrieg folgte, gespielt hat.

Turbo-Aufstieg von Wein- und Liegenschaftspreisen

Tatsache ist, dass der Turbo-Aufstieg burgundischer Wein- und Liegenschaftspreise des laufenden Jahrhunderts mit einer wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber offizieller Klassifizierung zugunsten erwiesener Marktfähigkeit zusammenfällt.

Die zur gleichen Zeit erfolgende Renaissance der Winzer- und Lagen-Champagner ging Hand in Hand mit der allmählichen Auflösung der ehemals dort herrschenden Klassifizierung, für die auch kein Ersatz geliefert wurde. Die Winzer sind nämlich zu sehr damit beschäftigt, die feinsten Weine in der langen, ruhmreichen Geschichte ihres Gebiets zu erzeugen.

Fordern etwa Burgunds oder Champagners Winzer eine Neuklassifizierung, weil manch Premier Cru längst höher bewertet wird als gewisse Grand Crus, ebenso „Villages“ lieu dit als Premier Cru? Man merkt es kaum. Was gerecht ist, hat der Markt entschieden. Und dass Händler und Restaurateure solche Weine regelmäßig ohne Hinweis auf Premier oder Grand Cru auf ihre Weinlisten setzen, beruht keineswegs auf der Annahme, ihre Kunden sind Kenner der Klassifikation.

Bordeaux ist keine Klassifizierung von Lagen

Bordeaux? Das ist keine Klassifizierung von Lagen. Die älteste Lagenklassifizierung – jene Tokajs – ist erst vor so kurzer Zeit wiederbelebt worden, dass man ihren möglichen Markteinfluss noch nicht messen kann.

Die Aufstellung der elsässischen Grand Crus – ob es sich lediglich um Korrelation, nicht Kausalität handelt – fällt zeitlich nach allgemeiner Einschätzung bedauerlicherweise mit einer Senkung des internationalen Profils der wunderschönen elsässischen Weinen zusammen. Die jungen Klassifizierungen in Frankreichs so anerkennungsbedürftiger Region Languedoc? Bis jetzt – soweit Winzerzeugnisse und Marktzahlen aufzeigen – wirkungslos bis katastrophal.

Woher kommt der Glaube - in Deutschland wie in Österreich - an die Wirksamkeit einer Lagenklassifizierung, geschwiege denn deren kommerzielle Notwendigkeit?

Priorität in einer anbrennenden Welt?

Wichtiger noch: Hätten Winzer einen weniger zeitgemäßen Augenblick auswählen können, um ein derart zeit- und kraftaufwendiges Unternehmen zu schultern?

Von den acht eingangs erwähnmten Vinaria Interviewpartnern übte nur einer ausdrückliche Kritik an dem Projekt einer Lagenklassifizierung: Heinz Frischengruber, Kellermeister der Domäne Wachau. Die Wachau ist übrigens auch die einzige Region, die – in Gestalt der Vinea Wachau – Skepsis gegenüber Lagenklassifizierung öffentlich äußert.

Frischengrubers Einwände kann man sich keineswegs entziehen. Er bietet dazu folgendes treffendes Beispiel: „Man muss berücksichtigen, dass sich die Verhältnisse ändern. Hätte man beispielsweise in den 1950er-Jahren Rieden klassifiziert, hätte es im Spitzer Graben keine einzige geschafft, weil die Trauben zu wenig reif waren; heute kommen von dort großartige Weine.“ Heute wachsen dort Trauben für einige der besten Wachauer Weine. Und jene klimatischen Veränderungen, die zuletzt im Zuge eines halben Jahrhunderts abgelaufen sind, werden wohl demnächst innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten erfolgen.

Jedwede Lagenbewertung wurzelt im Begriff des Terroirs. Kein Mensch, der diesen Begriff für valide hält, leugnet die wesentliche Rolle, die das Klima dafür spielt. Und niemand, der das Klima erforscht, kann die dramatisch beschleunigten Entwicklungen unserer Zeit verleugnen. Die Natur dürfte die heutigen Klassifizierungsbemühungen untergraben oder sogar auf den Kopf stellen.

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