Mit seiner Vortragsreihe „Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft“ legte der Anthroposoph Rudolf Steiner 1924 die Fundamente der heutigen biodynamischen Landwirtschaft. Damals ein skurriler Mix aus Naturwissenschaft, Esoterik und schwülstiger Definition.

Der Begründer der Biodynamie, Rudolf Steiner, um 1905 © Wikipedia/Otto Rietmann

Schon vor mehr als hundert Jahren stellten aufmerksame Landwirte fest, dass es mit der Qualität der Nahrung als Folge sich verschlechternder Böden bergab ging. Deshalb wurde Rudolf Steiner 1922 von den beiden in der Landwirtschaft tätigen Anthroposophen Erhard Bartsch und Immanuel Voegele gebeten, einen Kurs zu halten, wie man dieser Entwicklung Einhalt gebieten könnte.

Und so trafen sich in der Pfingstwoche des Jahres 1924 auf dem schlesischen Gut Koberwitz bei Breslau (heute: Polen) rund 100 Anthroposophen. Der gesundheitlich bereits schwer angeschlagene Steiner präsentierte hier seine mehr oder weniger spontan entwickelten Gedanken einer „geisteswissenschaftlichen Landwirtschaft“, die einerseits seinen fundierten naturwissenschaftlichen Kenntnissen, andererseits seinem esoterischen Unterbau entsprangen. Diese Tagung ist als „Der Landwirtschaftliche Kursus“ bekannt geworden, sie gilt als Gründung der Biodynamie.

Goethe & Mystik

Den Begriff Anthroposophie definiert Wikipedia so: „Als Anthroposophie werden eine von Rudolf Steiner begründete, weltweit vertretene spirituelle und esoterische Weltanschauung sowie der zugehörige Ausbildungs- und Erkenntnisweg bezeichnet. Die Anthroposophie versucht, Elemente des deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, der Gnosis, christlicher Mystik, fernöstlicher Lehren sowie der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Steiners Zeit miteinander zu verbinden.“

Naturwissenschaft & Okkultismus

Seine anthroposophische Lehre basiert nach seinen eigenen Aussagen auch auf okkultem Geheimwissen einer für ihn real existierenden geistigen Welt, die er mithilfe von „Helleseherorganen“ erforscht habe. Die Lehre Steiners hatte zudem eine den Kosmos einbeziehende Komponente. Als Gegenpol zur Anthropologie, der Wissenschaft vom Menschen, der Naturwissenschaft, wählte er die Bezeichnung „Anthroposophie“ für das Wissen des „Geistesmenschen“. Sie erstrecke sich auf alles, was der Mensch in der „geistigen Welt“, im Übersinnlichen, wahrnehmen könne; die Landwirtschaft war nur ein Teilaspekt.

Steiner und sein Vermächtnis

Rudolf Joseph Lorenz Steiner wurde 1861 in Kroatien, das zur Donaumonarchie gehörte, geboren, er war Österreicher. Er studierte an der Technischen Hochschule in Wien Mathematik, Nebenfächer waren Chemie, Physik, Geologie, Mineralogie, Biologie, Botanik, Zoologie, Mechanik und Maschinentechnik. Daneben besuchte er Vorlesungen über deutsche Literatur, Philosophie, Medizin und Geschichte an der Universität Wien. Gestorben ist er 1925 in der Schweiz.

Biodynamie & Nationalsozialismus

Ende 1912 wurde in Köln die Anthroposophische Gesellschaft gegründet. Sie wurde 1935 von den Nationalsozialisten einerseits wegen ihres „staatsfeindlichen und staatsgefährlichen Charakters“ aufgelöst, andererseits weil sie „gänzlich verjudet“ sei. Dessen ungeachtet genossen die Prinzipien der Biodynamie bei einigen NS-Größen hohes Ansehen. Die SS hatte zwischen 1939 und 1945 landwirtschaftliche Versuchsgüter eingerichtet, in denen die biologisch-dynamische Landwirtschaft erprobt wurde.

Nach dem Krieg wurden die anthroposophischen Aktivitäten in Deutschland und Österreich wiederbelebt. Es kam zu einem Konflikt um die Rechte an Steiners Werk. Der von seiner Frau Marie gegründete Nachlassverein, der heutige Rudolf Steiner Verlag, setzte sich nach einem Gerichtsurteil durch, die Anthroposophische Gesellschaft hatte das Nachsehen.

Anthroposophische Landwirtschaft

Die biologisch-dynamische Landwirtschaft nach den Ideen von Rudolf Steiner, auch biodynamische Landwirtschaft, Biodynamik oder Biodynamie genannt, umfasst die Bereiche Feldwirtschaft, Viehwirtschaft, Saatgutproduktion und Landschaftspflege. Eine Besonderheit ist der Einsatz sogenannter biodynamischer Präparate zur Behandlung der Böden sowie zur Stärkung und zum Schutz der Pflanzen. Auch oder insbesondere im Weinbau haben sich die Empfehlungen von Rudolf Steiner etabliert und Wirksamkeit bewiesen.

Zentral ist der Gedanke möglichst geschlossener Kreisläufe. Ein landwirtschaftlicher Betrieb wird als Organismus gesehen, der aus den agierenden Menschen, den dort lebenden Tieren, den Pflanzen und dem Boden besteht. Sie alle leben im Rhythmus der Natur, der auch von kosmischen Konstellationen beeinflusst ist.

Die Sache mit dem Mist im Kuhhorn

Schauen wir uns das am Beispiel des Hornmists an. Der Winzer vergräbt ein mit Kuhmist gefülltes Horn einer Kuh und holt es nach einer bestimmten Zeit, z. B. nach einem halben Jahr, wieder aus dem Boden. Es kann auch Hornkiesel eingefüllt werden, das ist zu Pulver gemahlener Bergkristall. Der Zeitpunkt des Ein- und Ausgrabens richtet sich nach den Mondphasen.

Steiner erklärte das beim vierten Vortrag seines Landwirtschaftlichen Kurses zur Düngungsfrage am 12. Juni 1924 in Koberwitz laut einer Mitschrift wie folgt: „Nehmen wir Dünger, wie wir ihn bekommen können, stopfen wir damit ein Kuhhorn aus und geben wir in einer gewissen Tiefe das Kuhhorn in die Erde. ……. Sehen Sie, dadurch, daß wir nun das Kuhhorn mit seinem Mistinhalt eingegraben haben, dadurch konservieren wir im Kuhhorn drinnen die Kräfte, die das Kuhhorn gewohnt war, in der Kuh selber auszuüben, nämlich rückzustrahlen dasjenige, was Belebendes und Astralisches ist. Dadurch, daß das Kuhhorn äußerlich von der Erde umgeben ist, strahlen alle Strahlen in seine innere Höhlung hinein, die im Sinne der Ätherisierung und Astralisierung gehen.“

Kosmische Energie & Mondphasen

Die Füllung wird in Wasser aufgelöst und in extrem geringer Dosierung im Weinberg versprüht. Es liegt auf der Hand, dass angesichts dieser homöopathischen Konzentration an Düngemittel nicht eine konventionelle Düngung im Vordergrund stehen kann, sondern eine ausgleichende, die Pflanze stärkende und den Boden belebende Wirkung als Erklärung dient.

Wenn man den Einfluss kosmischer Energie auf diesen Prozess akzeptiert, müssen sich die Arbeiten im Weingarten und auch im Keller nach dem Lauf der Gestirne richten. So bringt man die Hornkiesel-Mixtur eher bei Neumond aus, das Hornmist-Präparat bei Vollmond. Auch beim Rebschnitt, der Ernte und den Arbeiten im Keller achten viele biodynamisch arbeitende Winzer auf die Mondphasen. Dass chemische Eingriffe tabu sind, versteht sich in diesem Zusammenhang von selbst. Die Präparate dürfen nicht einmal in Gebinden aus elektrochemisch gebeiztem Edelstahl angerührt werden, Holz, Kupfer oder Ton werden bevorzugt.

Die Kräfte von Venus & Kupfer

Kupfer wirkt tödlich auf Pilze und wird deshalb gegen Peronospora & Co eingesetzt, auch in der Biodynamie. Warum auch dort? Nun, Kupfer zählt nach okkulter Tradition zu den sieben Planetenmetallen und wird der Venus zugeordnet. Steiner führte das in einem seiner Vorträge so aus: „Die Venuskräfte bewirken, daß der Mensch Besitz ergreifen kann von alledem, was in ihm flüssig ist. Nun haben sie probiert; sie haben gewartet, bis bei irgendeinem Menschen der Fall eingetreten ist, daß er schlecht Besitz ergreifen konnte von seinem Flüssigen. Dann treten bestimmte Krankheiten auf. Sie sahen dann, daß sie Kupfer verwenden mußten als Heilmittel, daß es also ganz ähnlich wirkt wie sonst die Venuskräfte, fanden sie, daß im metallischen Kupfer dieselben Kräfte stecken wie in der Venussphäre. Dadurch haben sie das Metall Kupfer in Zusammenhang gebracht mit der Venus.“

Von Steiner zu Demeter und respekt-BIODYN

Schon früh wurden die Ideen von Rudolf Steiner umgesetzt. Landwirte gründeten 1927 in Deutschland die Verwertungsgesellschaft Demeter, Vorläufer des Bioverbandes Demeter e.V.; wesentlich später kamen weitere Verbände hinzu, die ihre eigenen Regeln für die Biodynamie formulierten. Im Jahr 2007 wurde respekt-BIODYN der Öffentlichkeit vorgestellt. Bereits einige Zeit vorher trugen sich zwölf bekannte Weingüter aus Österreich und eines aus Südtirol mit diesem Gedanken. Mittlerweile sind zahlreiche renommierte Betriebe aus Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien und Ungarn mit von der Partie.

Österreich: 1.400 Hektar Weinbau biodyn

Der Zug ist abgefahren in Richtung biologischer Weinbau. Zunehmend mehr Betriebe entscheiden sich für eine biodynamische Wirtschaftsweise, die zum Teil weit über die Vorgaben der EU für den biologischen Weinbau hinausgeht. In Österreich wurden 2022 mehr als 1.400 Hektar Weingärten biodynamisch bewirtschaftet.

Manche der Maßnahmen, die von Rudolf Steiner empfohlen wurden, muten aus streng wissenschaftlicher Sicht skurril an. Dennoch hat die Erfahrung gezeigt, dass der biodynamische Weinbau funktioniert. Man kann die Sache völlig pragmatisch sehen: Der Mond übt nachweislich einen Einfluss auf die Erde aus. So ist er zum Beispiel der Motor der Gezeitenströme. Warum kann er keinen Einfluss auf den Saft in den Reben oder auf den gärenden Most im Keller haben? Außerdem weiß jeder, der sich mit Messtechnik befasst, dass einem Phänomen nicht grundsätzlich dessen Existenz abgesprochen werden kann, bloß weil es messtechnisch (noch) nicht nachweisbar ist.

Kein Garant für guten Wein

Aus Steiners Ausführungen zum Kupfer beispielsweise kann man den Schluss ziehen, dass er dessen Wirkmechanismen aus heutiger Sicht völlig unzutreffend erklärt hat, was freilich nichts daran ändert, dass Kupferpräparate höchst wirksam sind.

Wenn man sich mit den Gedanken von Rudolf Steiner auseinandersetzt, scheint ein Teil davon naturwissenschaftlichen Überlegungen zu folgen, andere hingegen muten höchst esoterisch an. Jedenfalls sind sie kein Garant für guten Wein.

Alle Biodynamiker, die ich kenne, arbeiten jedenfalls mit der Natur, nicht dagegen. Sie lehnen industrialisierten Weinbau ab und wollen die Böden für künftige Generationen gesund erhalten. Damit schließt sich der Kreis zu 1924.

 

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Biowinzerfamilie Triebaumer aus Rust (v.l.): Gerhard, Claudia, Herbert und Stefanie vom Weingut Ernst Triebaumer. © Weingut Ernst Triebaumer
Ausbringen des Hornkiesel-Präparats. © Weingut Wassmann (Deutschland)
Eine geringe Menge eines Wirkstoffes wird in Wasser stark verdünnt, also dynamisiert © Steve Haider
Auch Schafe sind Teil des Kreislaufes © Andreas Hofer
Der Bergkristall spielt in der Lehre Rudolf Steiners eine große Rolle. © Shutterstock
Biografie von Rudolf Steiner aus dem Piper Verlag © Piper