Ein neues Buch der jüngst in den 3-Sterne-Olymp erhobenen britischen Spitzenköchin Clare Smyth nimmt der deutsche Gastrokritiker Jürgen Dollase zum Anlass für die Frage: „Ist noch irgendwo Platz für ein Blättchen?“ Die Grenzen der Dekoration von Speisen.

Purismus hin, Purismus her: nach wie vor neigen Spitzenköche dazu, ihre Gerichte mit allzu vielerlei Komponenten aufzuladen und am Teller mit Dekorationen zuzuschütten. Clare Smyth (44) ist der jüngste Zugang zur elitären Riege der 3-Sterne-Köche, hat ihr eigenes Lokal in London eröffnet, das Core. Zuvor werkte sie bei allerhand Superstars der globalen Genuss-Szene, unter anderem als Küchenchefin im Stammrestaurant von Gordon Ramsey, wo sie bereits drei Sterne kochte, die freilich stets dem Meister zugeschrieben wurden.

Nun hat sie ihren Status sozusagen auch in gedruckter Form markiert, ein prachtvolles Buch mit vielen ihrer Gerichte und Rezepte herausgebracht. Clare Smyth gilt als absolute Trendsetterin in der aufwändigen Dekoration von Speisen. Die Gerichte vermitteln oft die Optik großer Kunstwerke, deren man sich mit Messer und Gabel kaum zu nähern wagt.

Essen, das nicht wie Essen aussieht

„Will diese Köchin eigentlich nicht, dass ihr Essen aussieht wie Essen?“ fragt sich Jürgen Dollase sarkastisch in seiner Buchbeschreibung: „Es fällt auf, dass Clare Smyth nicht etwa ihre Zubereitungen anrichtet, sondern ihre Gerichte auf dem Teller regelrecht dekoriert. Es scheint fast so, als ob sie danach sucht, noch irgendwo ein Blättchen platzieren zu können, um ihren „Stil“ auch immer und jederzeit glasklar präsent zu haben. Man kann sich vorstellen, dass – ich unterstelle das hier einmal glatt – vor allem Damen der Gesellschaft und ganz allgemein Frauen so etwas ganz entzückend finden und schon völlig aus dem Häuschen sind, bevor das Essen noch angefangen hat.“

Typische Rezepte im Buch von Clare Smyth sind zum Beispiel „Käse und Zwiebeln“, „Über Holzfeuer gerösteter Sellerie mit schwarzen Trüffeln und Haselnuss“, eine „Geröstete Buchweizen-Tarte mit Pfifferlingen und jungen Mandeln“, „Reh mit ‚Haggis‘, Perlzwiebeln und Lagavulin-Whisky“, der berühmte (Fake-)„Core-Apfel“, „Dexter Short Rib mit Ochsenschwanz und Markknochen“, ein „Core Caesars Salad“ oder ein „Crispy geräucherter Chicken Wing mit Bier, Honig und Thymian“.

Wirkung von Blättchen & Co. oft sensorisch unterschätzt

„Es sieht alles nach einem gemäßigt bodenständigen, handwerklich sehr hochwertigen Modern-Mainstream-Konzept aus, das sich gut essen lässt, bei dem also kein Gast fürchten muss, dass es irgendwie abenteuerlich schmeckt“, folgert Jürgen Dollase und kommt zur Kernfrage: „Was ist mit den vielen Deko-Elementen passiert? Ist die sensorische Struktur der Gerichte im Kern gut und wird dann, wenn es zur Präsentation geht, durch die Vielzahl von kleinen Kräutern, Blättern, Texturen beschädigt oder sogar erheblich gestört?“

Der Verdacht liegt für den Kritiker nahe, „weil man viele der Gerichte definitiv ‚falsch‘ essen kann, also so, dass die intensiven Aromen und Texturen von den Kräutern Fleisch, Fisch oder Gemüse überlagern können. Die Wirkung von Blättchen und Co. wird oft sensorisch unterschätzt. Es gibt manchmal einen initialen Biss, der dominant ausfallen kann, manchmal ein nachhaltiges Aroma, das ebenfalls dominant ausfallen kann. Im Mund beschäftigt man sich dann oft mit solchen Dingen, während das eigentliche Hauptprodukt irgendwo durchläuft und nicht voll glänzen kann. Die schöne Optik wird – wohl meist unbewußt – mit einer problematischen sensorischen Struktur sozusagen bezahlt.“

Drei Sterne-Köchin Clare Smyth eröffnete das „Core“ (deutsch: Kern) im Alter von 39 Jahren. Davor war sie unter anderen bei Gordon Ramsay in London, bei Ducasse im „Louis XV“ in Monaco und in der „French Laundry“ bei Thomas Keller in Kalifornien. Im „Core“ bekam sie schon 2018 den zweiten und 2021 den dritten Stern. Neben den Menüs gibt es ein dreigängiges à la Carte-Menü mit je 4 Vorspeisen, Hauptgerichten und Desserts. Preislich hält sich das Restaurant im Rahmen. Smyth ist die erste Drei Sterne-Köchin in Großbritannien und dort ein Liebling der Medien.

ZUM BUCH: Clare Smyth: Core. Phaidon Press, London 2022. 256 S., geb., Ganzleinen, Goldschnitt, in englischer Sprache, 39 bis 57 Euro (je nach Bezugsquelle), ISBN: 978-1-83866-406-0. Signierte Exemplare gibt es im Shop auf der Homepage des Core.

Das Buch ist im Verlag Phaidon erschienen. © Clare Smyth
© Nathan Snoddon
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